Freitag, 17. Mai 2013

Selbstmord auf Raten


Selbstmord auf Raten
Oder wie die Demokratie ihr Leben verkauft

Wege aus dem Leben

Tumorpatienten langsam sterben sehen und nicht helfen zu können, gehört zu den grausamsten Erfahrungen meines Lebens. Nur ein wenig pflegen, kontrollieren, dass die Medikamente noch auf ärztliche Anordnung die Waage halten zwischen so bewusst wie möglich und so schmerzfrei wie nötig.

Tageweise wachsen die Schmerzen der Patienten vor ihrem Ende, mit klinischer Sauberkeit werden sie präfinal genannt, während sie im Zauberberg, wo der junge Hans Castorp ähnliches erleben durfte, wie ich im etwa gleichen Alter als Pfleger, noch Moribundus hießen, sterbend waren, was den Vorgang des Totgeweihtseins noch stärker betont als dies präfinal, was gleiches meint, aber eben mit dem Wort Finale doch stärker ein irgendwie Endspiel betont, absurde Hoffnung hegt, nicht sagt, worum es geht.

Das Sterben, den Tod, das Ende, nach dem nichts mehr ist von dem wir wissen können, auch wenn es manche gerne anders glauben. An sich nichts schlimmes, sondern für die so eben Totgeweihten eine sichere Aussicht auf ein Ende aller Schmerzen, aller Sorgen, des nicht mehr Seins. Ansonsten geht der Tod uns solange wir sind, wie Lukrez richtig sagte, nichts an, denn solange wir sind, ist er nicht da und wenn wir nicht mehr sind, ist es für uns irrelevant, wir sind ja nicht mehr. Über den Übergang sagt das nichts aber selbstsicher sein macht zumindest erfolgreich.

Für die Kranken kann es aus dieser Sicht nur darum gehen, das Leiden so sehr wie möglich zu minimieren, denn, dass es endet, ist klar, leiden wir also so wenig wie möglich an dem Sein, was uns noch bleibt. Wie weit dabei durch Verringerung der Schmerzen der Tod notwendig beschleunigt wird, ob dies sein darf, wenn wir nicht wissen, was die Kranken wollen würden, wären sie klaren Geistes, stellt die Frage nach der Zulässigkeit des Selbstmordes.

Schon das Wort trägt die sittliche Wertung unserer Kultur in sich, in der dieser freiwillige Abschied von der Welt nichts Ehrenvolles oder Gutes hat, sondern im höchsten Maße verpönt ist. Ein Mörder ist, wie unser Bundesverfassungsgericht es im Zusammenhang mit der Zulässigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe sagte, immer einer, der einen anderen aus auch niedrigen Beweggründen tötet, eine besonders verwerfliche Gesinnung zeigt. Der totgeweihte Mensch, der sich selbst richtet oder mit kaum legaler Fremder Hilfe, sich richten lässt, wird auch Mörder genannt, der freiwillige Abschied damit zur verwerflichen Tat im Sinne christlicher Ideologie.

Das könnte uns nun nachdenklich über unser System und die Gründe unseres Strafens machen. Klinisch sauberer nennen wir diejenigen, die sich selbst töten darum heute auch lateinisch Suizidenten - am deutschen Wort und der Haltung ändert es nichts unser Verhältnis zur Selbsttötung ist kein entspanntes, sicher auch historisch bedingt. Um so erstaunlicher ist es, wie wir den Selbstmord unser Republik teilnahmslos begleiten.


Postdemokratie als verfasster Republikmord

Das Wort der Postdemokratie zieht seine Runde durch den Blätterwald im Schatten der neuen Biographien der Kanzlerin, die als eine der Ikonen des postdemokratischen Staates gilt.

Was heißt das für uns und wie gelassen sollten wir mit diesem kleinen post- vor unserer Demokratie umgehen, erinnert es doch an frühere Zeiten, gelbe Briefkästen und anderes oder jüngere Generationen an das, was sie in ihren sozialen Netzwerken senden, womit sie sich publizieren oder zumindest darstellen wollen?

Im Lateinischen meint das Praefix post- schlicht nach - wenn wir im postdemokratischen Zeitalter lebten, hätten wir die Demokratie, die Churchill schon für schlecht hielt, nur mangels besserer Alternative für die notwendig beste hielt - welch sehr englisches Bekenntnis - schon hinter uns, bewegten sich auf einer anderen Ebene.

Postdemokratisch ist ein politisches System, in dem es nicht auf die Beteiligung der Bürger, sondern nur auf Ergebnisse ankommt, die dem sogenannten Allgemeinwohl dienen und dem Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit genügen, diese Outputorientierung achtet darauf, was am Ende rauskommt, nicht wie es dazu kam.

Den demokratischen Verfahren wird dabei nur noch instrumentelle Bedeutung zugebilligt. Sie sind nützlich, wenn und insofern Mehrheitsentscheidungen oder demokratisch kontrollierte hierarchische Entscheidungen eine allgemeinwohlorientierte Politik hervorbringen.

Im strengen Gegensatz zur Pluralismustheorie wird dabei angenommen, dass Allgemeinwohl objektiv bestimmbar sei und Interessenkonflikte nicht demokratischen gelöst, sondern durch Verwaltungsvorgänge aufgehoben werden, wie wir es in der merkelschen Krisenpolitik beispielhaft beobachten konnten.

Die Verantwortung wird dabei von den gewählten Repräsentanten auf Experten, Kommissionen und Wirtschaftsunternehmen verlagert. Der Bürger wird nicht mehr als der Souverän betrachtet, von dem die Macht kommt, in dessen Auftrag entschieden werden muss, sondern als derjenige betreut, der befähigt werden muss, den vorgegebenen Anforderungen des Allgemeinwohls, also den Bedingungen des globalen Marktes, gerecht zu werden.

Es geht nicht mehr um politische Verantwortung, sondern professionelles Expertentum. Repräsentanten sind damit nicht mehr für politische Prozesse verantwortlich, sondern können ihre Amtslast bei den Experten abladen, die sich wiederum vor niemandem demokratisch rechtfertigen müssen.

Rücktritte bei einem immer möglichen Scheitern sind nicht mehr nötig, da ja nicht der verantwortliche Politiker scheiterte, sondern die zuständigen Experten, die, soweit möglich, einfach verlagert und ausgetauscht werden, ohne dass sie je für ihr Handeln vom früheren Souverän zur Verantwortung gezogen werden könnten.

Um aus der grauen Theorie mal wieder in die bunte Praxis einzutauchen, die uns der Beispiele genug bietet, sei für das Prinzip Deantwortung zunächst an den BER Flughafen in Berlin, die Elphilarmonie oder den Stuttgarter Untergrundbahnhof gedacht.

Bei letzterem wurde die verantwortliche Regierung zwar in einem kurzen letzten Aufstand des Souveräns abgwählt, aber auch die nun regierende vorherige Opposition musste sich den Sachzwängen beugen und dem dann erklärten Willen der nicht betroffenen Mehrheit der Bevölkerung. Beim Berliner Flughafen rotierten die Ämter untereinander, wurden neue Experten eingesetzt, in ihren Möglichkeiten wieder beschnitten und es stellt sich dem Beobachter nur die Frage, wohin es gehen soll, da keiner an einer zügigen und effektiven Fertigstellung noch interessiert zu sein scheint. Es wird regiert, offiziell geprüft, in Unterausschüsse weitergeleitet und dank der Komplexität des Themas kann sich keiner mehr ein Bild von Verantwortung und ihrer strukturellen Verlagerung machen. Der alternative Personalmangel jeweils regierender Fraktionen macht auch die Parlamente zahnlos und stumm, die Bürger können es nicht mehr hören und beschäftigen sich lieber mit ihrem Überleben als, dass der regierenden Postdemokraten infrage zu stellen.

Noch deutlicher zeigen sich die Merkmale des postdemokratischen Regierungsstils bei der Kanzlerin, die ihr wenn überhaupt Handeln alternativlos nennt oder eben den Gutachten ihrer Experten, wie dem Chefvolkswirt der Deutschen Bank folgt. Gerne berät sie sich auch im Zirkel ihrer Freundinnen, die über Erbschaften an die Spitze der größten deutschen Medienhäuser rückten und die Meinung in der Breite durch ihre Sender und Blätter massiv mitbestimmen.

Ähnliche Entwicklungen der Entdemokratisierung des politischen Einflusses und der Machtübernahme durch Medien oder deren Besitzer können wir auch bei unseren europäischen Nachbarn beobachten. Der Name Berlusconi steht hier für viele.

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat die idealtypische Postdemokratie folgendermaßen definiert:

„ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden [...], in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben“

Ganz im Gegensatz dazu setzt seine Definition der Demokratie „voraus, dass sich eine sehr große Zahl von Menschen lebhaft an ernsthaften politischen Debatten und an der Gestaltung der politischen Agenda beteiligt und nicht allein passiv auf Meinungsumfragen antwortet; dass diese Menschen ein gewisses Maß an politischem Sachverstand mitbringen und sie sich mit den daraus folgenden politischen Ereignissen und Problemen beschäftigen.”

Bei Stuttgart 21 war ein wenig davon lokal beschränkt und medial von grünen Gewissenskriegern benutzt, noch zu erkennen in diesem Land. Ansonsten sind wir zu Konsumenten im eben Freizeitpark verkommen, die unterhalten werden wollen und sich vom Politischen eher belästigt fühlen, besonders, wo es parteipolitisch auftritt. Dabei stellt sich konsequent die Frage, ob für dieses Desinteresse der entmündigte Souverän selbst die Verantwortung trägt oder die diesen Prozess in ihrem Sinne begleitenden Parteien, die sich mit den Trägern des Systems politisch und finanziell gut arrangiert haben.

Eine der zentralen Thesen von Colin Crouch ist, dass in den heutigen Demokratien der Einfluss privilegierter Eliten immer mehr zunimmt. Zu diesen zählt er vor allem Unternehmer, die durch Lobbyismus wesentlich größeren Einfluss auf die Regierungen haben als andere Interessengruppen oder Nichtregierungsorganisationen.

Auch deswegen verfolgten die Regierungen seit den 1980er Jahren eine neoliberale Politik, die die Privatisierung fördert und den Bürgern mehr Selbstverantwortung aufbürdet, statt sie zu schützen und so gilt, dass je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt nach Crouch eben die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens.

Wie Idioten sind deutsche Regierungsparteien von links nach rechts auf den rasenden Zug der Liberalisierung aufgesprungen, haben ihren Sozialstaat gemeinsam mit den Bundesunternehmen und den kommunalen Betrieben in den Königspalast der Gegenwart getragen und eben dort, an der Börse, veräußert. Sozialdemokraten legten die gesetzlichen Grundlagen des großen Ausverkaufs und Liberale und Christdemokraten befeuerten dies mit Freude weiter. Versuche der Umkehr gelten als realitätsfremd und so hangeln wir uns perspektivlos am Abgrund sterbend entlang. Die Demokratie existiert in diesem Land nahezu nur noch nominell.

Wir haben Grundrechte, die von den Vätern und Müttern der Verfassung als unverbrüchlich geschützt wurden, die einklagbar wären, würde jemand merken, dass hier von den Vertetern des Souveräns dieser ausgehebelt wird und seiner Rechte beraubt, die Demokratie von den Experten längst zur Sterbehilfe zur Seite gebracht wurde und sich auf gelegentlich Happenings beschränkt, in denen der Souverän medial gelenkt zu wählen hat, was ihn weiterlenken will. Es ist ja nur zu seinem Besten.

Die postdemokratische Absetzung der Regierungen in Italien und Griechenland, die Verzögerung der Regierungsbildung, bis dem Hauptgläubiger gemäße Konstellationen zur Fortsetzung der weitgehend neoliberalen Politik unter dem Diktat der Banken eingesetzt waren, ist erschütternd. Erstaunlich ist, wie weit die Bürger sich bereits durch die normative Kraft sogenannter Sachzwänge, die als galoppierende Schulden im Zinsenroulette gerne als Trumpfkarte gespielt werden, entmündigen ließen - die ersten Demokraten Europas haben sie sich von der Ökonomie und den geglaubten Sachzwängen aus der Hand nehmen lassen.


Ende der Politik oder Sterbehilfe mit Würde

Was bleibt uns in unseren real postdemokratischen Republiken noch zu tun, als eine schöne Beerdigung der der republikanischen Idee zu organisieren, möglichst zügig, da der Markt und seine Zwänge uns wenig Zeit zum Vertrödeln geben.

Vielleicht sollten wir erkennen, dass in diesem Stadium, wie bei den prafinalen Tumorpatienten am Anfang der Selbstmord nicht mehr ehrenrührig ist, sondern nur ein erlösender Sprung auf der Zeitachse festgelegter Abläufe.


Der Bürger als Souverän ist bereits verstorben. Er gab seine Macht an die postdemokratischen Politiker, die ihm dafür den Freizeitpark mit neoliberalen Prinzipien schenkten, was die Bürger beschäftigt hält.

Die parlamentarische Republik ist so gut wie tot, höchstens noch präfinal und Sterbehilfe schiene ein erlösender Gnadenakt, wäre sie legal - aber wie bei den Tumorpatienten wird sich auch in der Demokratie keiner trauen so schnell das Kind beim Namen zu nennen und die Demokratie den Lobbygruppen zu überschreiben, deren Namen sie abwechselnd trüge - etwa Daimler oder Siemens oder SAP Postrepublik Deutschland.

Es ginge dann im Staat zu wie im Privatvernsehen oder in den Fußballstadien, die inzwischen zu Zahnpastaarenen oder Versicherungsstadien verkamen. Fraglich nur, ob überhaupt jemand den Unterschied merkte, wenn die noch spaßeshalber sogenannten Volksverteter künftig ihren Eid auf Deutsche Bank und BDI leisteten.

Andernfalls wäre es nun fünf nach zwölf für das Volk, sich zu erheben, um wieder Souverän zu werden, doch da der Autor um den Verlust von Sponsoringverträgen fürchtet, zumindest als Idee, sich auch nichts leisten kann, wird er sich hüten, dazu aufzurufen, dass es jemand begreift, scheint schon zweifelhaft genug in der gut unterhaltenen postdemokratischen Gesellschaft.
jt 17.5.13

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